Die meisten Geschichten beginnen mit „Es war einmal…“. Meine fängt an mit „Es gibt…noch immer“ das Mädchen, – nun, heute ist sie eine junge Frau -, das vor dem Haus ihrer Familie steht, verzweifelt auf das, was davon übrig geblieben ist, schaut und bitterlich weint. Sie schreit nach ihrer Mama, nach ihrem Papa, doch die antworten nicht. Das Dach des Hauses ist eingebrochen, ein Teil der Wände steht noch. Zaghaft wagt sich das Mädchen näher, klettert mit ihren nackten Füßchen über die Trümmer in das Haus. Die Luft bleibt ihr weg, fast erstickt sie an ihrem Schluchzen, als sie den unter einem umgestürzten Stück Mauer hervorragenden Arm ihres Papas entdeckt. Daneben liegt ihre Mama, regungslos.
Es war Krieg irgendwann im Dezember. Das Mädchen war mit einem Schlag Vollwaise. Das von der Mama für Weihnachten versprochene Geschwister war auch noch nicht angekommen. Worüber gekämpft wurde und warum, davon hatte sie keine Ahnung. Kleine Mädchen und kleine Buben haben fast nie eine Ahnung, sie leiden nur schrecklich darunter. Wenn die Großen nur einen Hauch von einer Idee davon hätten, wie sehr die Kleinen darunter leiden, würden sie diesen Wahnsinn sicher nicht veranstalten.
Es wurde dämmerig draußen. Das Mädchen saß neben seinen toten Eltern. Sie hatte Mamas Unterarm zwischen ihre kleinen Händchen genommen und zog und rieb an ihr als könnte sie Leben in ihre Mama hinein reiben und sie zurückbringen. Dann wieder nahm sie ihres Papas Hand und zerrte an ihr. Unaufhörlich schluchzte sie. Staub vermischte sich mit ihren Tränen, brannte in ihren Augen, verschmutzte ihr Gesicht. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass es dunkel geworden war, dass der Mond sein schwaches Licht durch das hereingebrochene Dach fallen ließ. Die Kleine war total erschöpft, kuschelte sich an den Körper ihrer Mama. Begleitet vom Donnern ferner Schüsse schlief sie ein.
Sie träumte, dass sie mit anderen Kindern über ein Feld lief, ja hetzte – verzweifelt und voller Angst. Hinter ihnen waren Soldaten her, die auf die Kinder schossen. Immer wieder hörte sie einen Aufschrei und konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie ein Kind nach dem anderen getroffen zu Boden fiel. Irgendwie hatte sie Glück. Eine laute Männerstimme schrie etwas für sie Unverständliches und plötzlich ließen die Soldaten von ihrer Hetzjagd ab und machten kehrt. Sie hatte gerade ein Waldstück erreicht, setzte sich an einen Baum und kam endlich wieder zu Atem.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch und traute ihren Augen nicht. Da kam der Weihnachtsmann aus dem Dickicht auf sie zu. Er war etwas komisch gekleidet – na ja, es war ja auch Krieg. Er hatte so ein Art roten Anzug an, am Rücken ein rotes Kreuz auf einem weißen Feld. Sie dachte, vielleicht ist das die Uniform, die ein Weihnachtsmann im Kriegsgebiet trägt. War ja jetzt nicht so wichtig. Der Weihnachtsmann hob sie auf und nahm sie erst einmal in seine kräftigen Arme. War das wohlig. Der Weihnachtsmann hatte auch einen roten Sack dabei und siehe da, er holte eine kleine Flasche heraus, machte sie auf und gab ihr zu trinken. Hat das fein geschmeckt. Dann gab er ihr ein Stück Schokolade. Solche Schokolade hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gegessen.
Nachdem sie die Schokolade aufgegessen und noch eine Schluck aus der Flasche genommen hatte, nahm der Weihnachtsmann so ein Hörgerät aus der Tasche, so eines, wie der Arzt es auch hat, steckte sich die Stöpsel in die Ohren und legte das andere Ende an die Brust des Mädchens, dann auf den Rücken. Der Weihnachtsmann deutete dem Mädchen tief einzuatmen – er machte es ihr vor – und wieder auszuatmen. Dann packte er alles wieder ein, nahm das Mädchen in den Arm und machte sich mit auf den Weg in die Richtung, aus der er gekommen war.
Nach einiger Zeit erreichten die beiden einen Platz voll mit Zelten und Fahrzeugen und jeder Menge Weihnachtsmänner. Das kleine Mädchen wusste nicht, dass es auch Weihnachtsfrauen gibt. Aber die gab es hier in diesem Weihnachtsdorf. Die waren alle voll beschäftigt, wahrscheinlich mit dem Vorbereiten aller Lieferungen, die sie in den nächsten Tagen zu erledigen hatten.
Das kleine Mädchen wurde jetzt an eine Weihnachtsfrau übergeben. Die hatte schon einen Bottich warmes Wasser hergerichtet, half dem Mädchen beim Ausziehen und steckte sie kurzerhand hinein. Hat das gut getan, mmmh. Diese Weihnachtsmänner und –frauen wissen schon was kleine Menschen mögen. Das Mädchen wäre noch gerne länger in dem Bottich geblieben, aber die Weihnachtsfrau hob sie heraus und wickelte sie in ein flauschiges Tuch.
Ein neues Erlebnis jagte das andere, denn jetzt wurde sie in eine Art Nebenraum getragen, auf ein Bettgestell gelegt und zugedeckt. Unter ihrem Kopf lag ein weiches Kissen, so richtig zum eingraben. Ans Einschlafen konnte sie sich gar nicht mehr erinnern. Sie spürte etwas sich am Bett bewegen, öffnete die Augen und an der Bettkannte saß die Weihnachtsfrau, streichelte ihr über die Haare und hieß sie aufstehen. Nach einer weiteren Waschzeremonie kriegte sie andere Kleider. Die waren etwas eigenartig, aber man konnte sich durchaus darin wohlfühlen.
Sie hatte am Vortag, als sie in dieses Weihnachtsdorf gebracht wurde, gar nicht gemerkt, dass es hier auch noch jede Menge andere Kinder gab. Jetzt sah sie den bunten Haufen und hörte die fröhlichen Stimmen. Komisch, früher kam doch der Weihnachtsmann zu den Kindern, jetzt werden die Kinder zu den Weihnachtsleuten gebracht. Das ist ja eine komplette Umstellung. Müssen die auch einsparen? An Personalmangel dürfte es ja nicht liegen, wenn man sich hier umschaut. Zum wundern und nachdenken blieb kaum Zeit. Jetzt hieß es auf Reisen gehen. Am Dorfrand unten wartete schon ein Bus, in weiß allerdings, auch mit dem roten Kreuz, sogar am Dach. Das Mädchen und die anderen Kinder durften einsteigen und sich auf einen freien Platz setzen. Das Mädchen setzte sich neben einen hageren Jungen. Dieser deutet ihr fragend, ob sie nicht am Fenster sitzen möchte, steht auf und tauscht Platz mit ihr. Netter Junge, dachte sie und drückte dankend seine Hand. Der Busfahrer stieg ein, verriegelte die Tür und startete den Motor. Natürlich waren ein Weihnachtsmann und eine Weihnachtsfrau auch an Bord. Die saßen vorne.
Es schien eine endlose Fahrt zu sein. Zwischendurch fielen dem Mädchen immer wieder die Augen zu, aber es gab so viel zu sehen, sie wollte nichts verschlafen. Und doch musste sie eingeschlafen sein, denn als sie ein ungewöhnlicher Lärm aufweckte, sah sie etwas, das sie noch nie aus der Nähe gesehen hatte. Flugzeuge. Plötzlich dämmerte es ihr und sie fragte sich, um Gottes Willen, muss ich etwa noch fliegen. Draußen schwirrten schon wieder Weihnachtsleute herum – und andere Leute in Uniformen. Die Bustüre wurde geöffnet, alle Kinder stiegen aus und wurden von den Weihnachtsleuten zur Treppe vor einem der großen Vögel geleitet und in den Flieger geführt. Darin sah es recht bequem aus, aber das Mädchen hatte ein flaues Gefühl im Magen. Ob das nur gut geht? Von der langen Busfahrt war sie so müde, aber ihre Nervosität, man kann ruhig sagen, Angst, hielt sie wach. Es dauerte nicht lange, da bebte das Flugzeug und sie dachte „jetzt ist es vorbei mit uns Kindern“. Langsam fing der Flieger zu rollen an, blieb dann wieder stehen, heulte noch einmal auf und wurde immer schneller und schneller und schneller. Dann hob er ab in die Lüfte. Man kann sich lebhaft vorstellen, was in dem kleinen Mädchen vorging. Die Ohren waren verstopft, als hätte sie sich monatelang nicht gewaschen. Fast peinlich. Die Wolken rasten vorbei, die Landschaft sah von hier oben ganz sonderbar aus, irgendwie schön. Das flaue Gefühl im Magen begann zu schwinden. Sie hatte keine Ahnung, wohin die Reise ging. Es war ihr auch egal, solange es an einen Ort war, wo nicht geschossen wurde. Sie war zufrieden und unheimlich müde.
Als sie aufwachte – sie war noch immer mit diesem breiten Gurt angeschnallt – hatte sich der Weihnachtsmann, der auch an Bord war, über sie gebeugt und in ihrer Sprache gesagt, wir landen jetzt bald in Wien. Das ist in Österreich, ein schönes Land, in dem nicht geschossen wird. Das war dem Mädchen recht. Das war Grund genug für sie zu sagen, „OK, da bleibe ich“.
Sie hat Wort gehalten. Heute ist das kleine Mädchen eine junge Lehrerin. Sie hat einen Freund und die beiden wollen bald eine Familie gründen. Das heißt sehr bald, denn es ist bald Weihnachten und sie erwartet ihr erstes Kind. Oder ist das ein Traum?
Jedenfalls, es gibt noch immer ein schluchzendes Mädchen hier, einen verletzen Jungen dort, es gibt viele überall. So sehr möchte ich uns allen wünschen, dass wir diese Geschichten einmal beginnen können mit „Es war einmal…“
von Theo Brinek